Cover
Titel
Pädophilie. Eine Diskursgeschichte


Autor(en)
Kämpf, Katrin M.
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dagmar Lieske, Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Wie die 2019 verstorbene Psychotherapeutin und Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker 1997 resümiert hat, ist die Debatte über Pädophilie in der Sexualwissenschaft „immer auch geprägt von dem jeweiligen gesellschaftlichen Diskussionsstand, der Reaktion auf ihn und der Reflexion über ihn“.1 Tatsächlich ruft kaum ein Thema derart viele Kontroversen und Emotionen auf, wie der gesellschaftliche Umgang mit Pädophilie bzw. sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Bereits hier beginnt die Problematik: Nicht selten wird Pädophilie – gerade in populistischen, medialen Diskursen – mit ausgeübten sexuellen Gewalthandlungen von Männern gleichgesetzt. Dabei gehen Sexualforscher:innen davon aus, dass lediglich ein kleiner Prozentsatz der sexualisierten Gewalt gegen Minderjährige auf eine Pädophilie im eigentlichen Sinne zurückzuführen ist. Gleichwohl lässt sich beides nur schwer voneinander trennen.

Die Kulturwissenschaftlerin Katrin Kämpf hat nun eine längst überfällige Studie vorgelegt, in der sie detailliert nachzeichnet, wie die Annahme einer sexuellen Neigung für Kinder, so die Kerndefinition von Pädophilie, in der Deutschen Geschichte verhandelt wurde. Ausgehend von Richard von Krafft-Ebing, einem „Vordenker der Sexualwissenschaft“ (S. 26), der 1896 die Kategorie „Pädophilie erotica“ einführte, legt sie die jeweiligen Definitionen von Pädophilie in medizinischen, sexualwissenschaftlichen und kriminologischen Fachdiskursen bis in die Bundesrepublik und die DDR dar. Krafft-Ebing ging dabei von der Existenz einer primären sexuellen Präferenz auf Kinder aus, welche die Pädophilen auszeichne und diese von Gelegenheitstätern unterscheiden würde, die Übergriffe aufgrund verschiedener Faktoren wie Alkoholkonsum, fehlender Moral oder mangelnder Sexualität mit Erwachsenen ausübten.2 Diese Differenzierung zwischen pädosexuellen Taten bzw. sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Allgemeinen sowie einer spezifischen, als Pathologie klassifizierten sexuellen Neigung prägt bis heute die internationalen Fachdebatten um Pädophilie.3

Kämpf stellt jedoch die These auf, dass der deutsche Diskurs von Beginn an eine enge Verwobenheit von „Nationalstaatsbildung und biopolitischen Fragen“ (S. 14) aufweise. Insbesondere im Nationalsozialismus zeige sich zudem „eine antisemitische Aufladung“ (ebd.). Auch in den Debatten nach Ende der NS-Herrschaft sieht Kämpf die Besonderheit, dass „Vergangenheitsbewältigung und Sexualität eng miteinander verknüpft“ (S. 17) worden seien, wobei sie gleichzeitig die aus ihrer Sicht bedeutenden Unterschiede zwischen der Bundesrepublik und der DDR herausarbeitet. Während sich ab den 1960er-Jahren in Westdeutschland intensive Debatten über Pädophilie nachzeichnen lassen, die unter anderem zur Gründung sogenannter Pädophilenbewegungen ab Ende der 1970er-Jahre führten, die eine Straffreiheit für sexuelle Handlungen zwischen Kinder und Erwachsenen forderten4, sei das Thema „in der DDR eine Randfigur“ (S. 17), so Kämpf.

Die Autorin führt in ihrer chronologisch aufgebauten Arbeit sorgsam und detailreich durch die verschiedenen Phasen des deutschen „Pädophiliediskurses“, wobei sie sich besonders für die „Verschränkung von Macht und Wissen“ (S. 21) interessiert. Ihre Studie zeigt auf, an wie vielen Stellen Kontinuitäten bei diesem Thema existieren. Wenn auch die Kriterien variierten, die die beteiligten Fachdisziplinen zugrunde legten, bleibt doch offensichtlich, dass über die Jahrhunderte hinweg immer wieder ähnliche Erklärungsmuster für Pädophilie und sexualisierte Gewalt herangezogen wurden, beispielsweise eine mangelnde Sexualität des Täters/der Täterin mit anderen Erwachsenen, ein sehr hohes oder sehr junges Alter des Täters/der Täterin oder soziale Faktoren wie beengte Wohnverhältnisse. Auch der Blick auf die Betroffenen ist ähnlich: Von Beginn an stehen das Wohlergehen und die mögliche Traumatisierung von Mädchen und Jungen, die Missbrauch erleiden mussten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht im Vordergrund der Pädophiliedebatten. Vielmehr wird gerade jungen Mädchen aus unteren sozialen Schichten häufig eine „Mitschuld“ an Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen zugeschrieben, insbesondere dann, wenn es sich um sogenannte „Inzesttaten“ innerhalb der Familie handelt. Überraschend mag wirken, dass bereits im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zwei Aspekte thematisiert wurden, die in den heutigen Auseinandersetzungen um Pädophilie und Kindesmissbrauch immer wieder in den Hintergrund rücken: zum einen die Auseinandersetzung mit Frauen als Täterinnen, zum anderen die Gewalt innerhalb der Familie bzw. des familiären Nahumfeldes. Auch sexuelle Übergriffe unter Kindern, bis in die Gegenwart ein weiteres Tabuthema in diesem Diskursfeld, wurden bereits früh thematisiert, wie Kämpf anhand eines Vortrags von Sigmund Freud aus dem Jahr 1896 aufzeigt.

Dieser Wiederholung der verhandelten Themenfelder, die eng mit dem Pädophiliediskurs zusammenhängen, ist es geschuldet, dass einige Kapitel und Darstellungen von Kämpf bisweilen etwas redundant wirken. Hier wäre vielleicht eine Abhandlung anhand von inhaltlichen Kernaspekten wie etwa Täter:innenbildern, der Blick auf die betroffenen Kinder als Zeugen vor Gericht oder die angenommenen Ursachen für Kindesmissbrauch anstelle eines chronologischen Aufbaus gewinnbringend gewesen. Auf diese Weise hätten auch die Unterschiede und Kontinuitäten zwischen den politischen Systemen fokussierter verdeutlicht werden können. Einige Zeitabschnitte behandelt Kämpf leider etwas verkürzt, etwa die Weimarer Republik, der sie kein eigenständiges Kapitel widmet. Für die Herausarbeitung der Unterschiede zur NS-Zeit, die wiederum einen vergleichsweise großen Raum einnimmt, wäre dies eine wichtige Grundlage gewesen. Kämpfs intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist indes positiv hervorzuheben, da es sich hier um ein großes Forschungsdesiderat handelt. Gleichzeitig betont die Autorin aber selbst, dass der Pädophiliediskurs zwischen 1933 und 1945 kaum eigene Ansätze hervorgebracht hat. Zudem wurden in dem Zeitraum sexuelle Missbrauchstaten an Kindern vor Gerichten nicht selten bagatellisiert und vergleichsweise geringfügig bestraft.5 Die Besonderheit dürfte somit weniger in der Unterscheidung zwischen einer sexuellen Pathologie und der Gelegenheitstat liegen, deren Grundstein schon durch Krafft-Ebing im Deutschen Kaiserreich gelegt wurde, sondern vielmehr in der Konsequenz, die eine Pathologisierung für den Einzelnen im Nationalsozialismus haben konnte. Denn erst, wenn dem Täter eine „krankhafte“ Sexualität unterstellt wurde, drohten verheerende Eingriffe in das Leben des Einzelnen, zu denen Zwangskastrationen, dauerhafte Internierung sowie Überstellung und Vernichtung in den Konzentrationslagern gehörten. Kämpf betont folglich zurecht, dass die Urteile zwischen 1933 und 1945 hart gegen Menschen ausfielen, wenn diese „nicht als Mitglieder der Volksgemeinschaft gedacht wurden“ (S. 168). Wie sie anhand der Richterbriefe verdeutlicht, ergab sich mitunter eine erhebliche Differenz zwischen dem existierenden Recht und der konkreten Rechtspraxis. So kritisierten führende Juristen in den Richterbriefen wiederholt die aus ihrer Sicht zu laxen Urteile der Justiz.

Diese „starke Diskrepanz zwischen der Verfolgungspraxis der Gerichte und Regimewünschen und Plänen auf Ministeriums- und Reichssicherheitshauptamtsebene“ (S. 170) verweist auf einen wichtigen Punkt, der nicht nur für die Zeit des Nationalsozialismus gilt: Recht und Rechtsprechung sind nicht dasselbe. Gerade für eine Untersuchung von sexualisierter Gewalt in der Geschichte und Gegenwart wäre es deshalb gewinnbringend, die Verzahnung von gesellschaftlichen Diskursen nicht nur mit der Festlegung von Recht, sondern zusätzlich mit der jeweiligen konkreten historischen Praxis der Gerichte zu verknüpfen, wie dies einzelne Autorinnen im Hinblick auf Kindesmissbrauch bereits getan haben.6 Konkret wäre dann danach zu fragen, inwiefern und auf welche Weise Fachdiskurse die Gerichte in ihren Urteilssprüchen beeinflussten und inwiefern auch umgekehrt die Rechtsprechung selbst sich auf Diskurse auswirkte. Eine solche Studie steht für den von Kämpf untersuchten Zeitraum noch aus.

Kämpf schließt ihre Arbeit mit einem kritischen Ausblick auf eine zunehmende „Technosecurity-Kultur“ (S. 259), die sie für den heutigen sexualwissenschaftlichen Umgang mit Pädophilie teilweise konstatiert, und warnt dabei vor vermeintlichen technischen Lösungen für soziale Probleme. Auch die etwa 2010 einsetzende Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, die 2016 durch die Schaffung einer Aufarbeitungskommission institutionalisiert wurde7, betrachtet Kämpf kritisch: So habe die Aufarbeitungsbemühung in Teilen „in der Logik eines Hygienediskurses oder eines Reinigungsrituals“ (S. 269) funktioniert, bei der es weniger um die Analyse von Machtverhältnissen als vielmehr um die Distanzierung früher getätigter Aussagen gegangen sei. Man muss dieser Kritik nicht folgen – so oder so liefert Kämpf eine hervorragende und gut aufbereitete Grundlage für weitere Forschungen. Pädophilie als Diskursfeld und sexualisierte Gewalt als Phänomen sind in der Geschichtswissenschaft weiterhin weitgehend blinde Flecken, insbesondere dann, wenn die deutsche Geschichte vor 1945 verhandelt wird. Unter Einbeziehung der wenigen zu dem Thema vorliegenden Forschungsliteratur gelingt es Kämpf, diese Lücke mit einer wichtigen Studie zu füllen, die das Potential zu einem Standardwerk über die Geschichte der deutschen Pädophiliediskurse hat.

Anmerkungen:
1 Sophinette Becker, Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung. Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 1 (1997), S. 5–21, hier S. 5.
2 Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung, 10. Auflage, Stuttgart 1898 (1. Aufl. 1896).
3 Vgl. zur klinischen Definition auch URL: <https://www.msdmanuals.com/de-de/heim/psychische-gesundheitsst%C3%B6rungen/paraphilien-und-paraphile-st%C3%B6rungen/p%C3%A4dophilie> (25.07.2022).
4 Vgl. dazu Franz Walter / Stephan Kleche / Alexander Hensel (Hrsg.), Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015.
5 Dagmar Lieske, Zwischen der Bagatellisierung sexueller Gewalt und drakonischen Strafen – Zum Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus, in: Birgit Aschmann (Hrsg.), Katholische Dunkelräume. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch, Paderborn 2021, S. 155–170.
6 Bspw. Sonja Matter / Brigitte Kerchner, „Unbescholtene Bürger“ und „gefährliche Mädchen“ um die Jahrhundertwende. Was der Fall Sternberg für die aktuelle Debatte zum sexuellen Missbrauch an Kinder bedeutet, in: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 6 (1998), S. 1–32; Sonja Matter, Das „unschuldige“, das „verdorbene“ und das „traumatisierte“ Kind: Die Prekarität des Opferstatus bei sexueller Misshandlung in österreichischen Strafprozessen (1950–1970), in: Michael Meyer / Stefan Grüner / Markus Raasch (Hrsg.), Zucht und Ordnung. Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive, Berlin 2019, S. 431–456.
7 Siehe URL: <https://www.aufarbeitungskommission.de/> (25.07.2022).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch